„Und wer hat Euch aufgeweckt?“
Berlin, Montag, der 9. April 2018:
Schon früh am Morgen ging es für mich los. Ich musste zum Flughafen Frankfurt. Heute war Projektbesprechung in Berlin bei diesem kleinen Neubauprojekt, welches ich ursprünglich zusammen mit meinem Kollegen, dem „kleinen Grenzer“ Martin Sch. bearbeiten sollte, angesagt und das Architekturbüro bestand auf einer Teilnahme meinerseits. Eigentlich hätte ich schon vor zwei Wochen, bei der letzten Projektbesprechung, welche nun im zweiwöchigen Rhythmus stattfinden sollen, anwesend sein sollen. Doch da war ich ja im Urlaub in Wien und mein Chef, der ja nun offensichtlich beschlossen hatte, mein Kollege, der „kleine Grenzer“ sollte nun alleine die Projektleitung für die gesamte Haustechnik übernehmen, war darüber gar nicht traurig.
Nun traf ich mich mit meinem Kollegen am Hauptbahnhof, vor dort aus ging es dann gemeinsam zum Flughafen. Um 8:30 Uhr ging das Flugzeug und um 10:15 Uhr sollten wir in Berlin Tegel landen. Doch der Flieger hatte etwas Verspätung. So kamen wir erst nach halb elf Uhr aus dem Flughafenterminal raus. Eine scheinbar unendlich lange Schlange vor dem Taxi Abfahrtsplatz am Terminal C wartete dort schon. Daher blieb uns nichts anderes übrig, als uns selbst anzustellen. Ich war schon ganz gespannt, was mich an diesem Tag alles erwarten würde.
Kaum eingereiht in der Schlange – nichts Neues. Ein kleiner, etwas rundlicher Mann mit Glatze wackelte stolz an uns vorbei. Er benahm sich, wie es so viele tun, als würde er Teil einer neuen Weltherrschaft sein. Vielen fiel er wahrscheinlich gar nicht auf, aber, nachdem ich sie beinahe jeden Tag rund um die Uhr um mich herum habe, mir schon. Ich war zuvor erst einmal in Berlin und dies ist mittlerweile auch schon wieder gut 12 Jahre her. Daher war ich nicht nur gespannt, was mich bei den heutigen Besprechungen erwarten würde, sondern auch darauf, wie sich der durchschnittliche Passant in Berlin verhält, gerade im Vergleich zu Wien, Salzburg, München, Stuttgart und auch Frankfurt, nach all dem, was ich in den letzten Jahren alles in Deutschland kennengelernt hatte. Daher wäre ich am liebsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen. Aber da wir ja geschäftlich hier waren, musste es wohl ein Taxi sein.
Da wackelte nun also dieser kleine, dickliche, etwas ältere Mann an uns und der gesamten Schlange am Taxistand vorbei und telefonierte. Es muss wohl ein besonders wichtiges Telefonat gewesen sein, seinem Tonfall uns seiner Gestik nach zu schließen. Aber was sagte er am Telefon?
„Jetzt zwicken wir alle Leute raus!“
Und augenblicklich dachte ich mir, hier in Berlin ist’s, wie überall. Hätte er nicht Berliner Dialekt gesprochen, wäre es mir gar nicht aufgefallen, wo ich nun bin.
Nach einer Weile waren wir endlich an der Spitze der Schlange der Wartenden angekommen und uns wurde das nächste Taxi zugewiesen. Ich setzte mich gleich auf den Rücksitz, denn am Beifahrerplatz nehme ich ohnedies nur äußerst ungern in einem Taxi Platz. Den überließ ich liebend gerne meinem Kollegen. Soll er doch die Taxirechnung bezahlen, schließlich will er nun ja auch ein „großer“ Projektleiter für haustechnische Anlagen in einem Planungsbüro sein. Zudem soll er sich auch darum kümmern, damit er die Taxikosten wieder rückerstattet bekommt. Da bin ich lieber Beifahrer am Rücksitz!
Kaum am Architekturbüro angekommen, stieg ich sofort aus dem Taxi aus. Ich dachte mir dabei überhaupt nichts, denn schließlich waren wir nun am Ziel und ohnedies bereits eine halbe Stunde verspätet. Doch da meinte der Taxifahren, offensichtlich seinem Akzent nach aus Polen stammend,
„der haut gleich ab!“
Und lachte dabei. Ich hatte die Tür am Rücksitz bereits zugeworfen, hörte ihn allerdings noch, wie er dies sagte. Nun dachte ich mir, entweder redet er so laut, oder ist ein Fenster noch einen kleinen Spalt offen, sodass ich ihn noch hören konnte. Aber es war seine Seitenscheibe, welche er ja schon die ganze Fahrt über offen hatte, denn es war mittlerweile relativ warm geworden an diesem Tag.
Nun machen mich allerdings gerade solche Aussagen, wie diese des Taxifahrers immer besonders hellhörig, denn dabei geht es meist um etwas. Zudem, ich bin nur in normalem Tempo aus dem Taxi ausgestiegen und er meinte schon, ich würde abhauen. Also warum? Daher verfolgte ich, wie mein Kollege die Taxirechnung beglich und hörte auch, worüber sie sprachen. Und da meinte der polnische Taxifahrer, während er das Geld in seine Tasche einsteckte,
„und? Wer hat Euch aufgeweckt und Euch gesagt, dass wir jetzt selbst unser neues Reich aufbauen?“
Darauf mein Kollege, der „kleine Grenzer“,
„das war das Ministerium für Staatssicherheit! Die haben uns gesagt, die wären hier so naiv und würden jeden, der von drüben kommt, am liebsten umarmen! – Gibt’s ja noch alles. Jetzt halt nur im Untergrund!“
Wie man eben so redet, zwischen polnischem Taxifahrer um die sechzig und Sohn eines ehemaligen DDR Grenzsoldaten in der Berliner Innenstadt in der Hardenberger Straße im Jahre 2018! Es scheint so, als wäre dies mittlerweile völlig normal zu sein. Dabei denkt sich niemand mehr etwas. Diesen Eindruck hatte es jedenfalls für mich. Danach hatte ich mich extra noch mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt, damit ich sein Gesicht sehe und ihm zum Grüßen mit der Hand gedeutet. Er sollte einfach merken, dass ich nun gehört hatte, worüber er mit meinem Kollegen gesprochen hatte.
Wenige Minuten später saßen wir dann endlich im Besprechungszimmer des Architekturbüros. Übrigens ein sehr renommiertes Büro in Berlin. Aber nachdem wir selbst schon gut eine halbe Stunde zu spät waren, hatten es der Architekt, ein junger Direktor des Büros, wie sich dies heutzutage nennt, und seine Kollegin auch nicht mehr besonders einig. Nach einer Weile, versorgt mit Kaffee, ging es dann aber endlich los. Wir besprachen einige technische Belange der Entwurfsplanung. Dabei ging es auch um Brandschutz, wofür mittlerweile bei den meisten Bauvorhaben auch ein eigener Brandschutzsachverständiger beauftragt wird. So auch bei diesem kleinen Bauvorhaben. Dieser musste nun kontaktiert werden, denn es bedarf einer kurzen Stellungnahme. Aber nicht, dass dies der Architekt direkt aus dem Besprechungsraum tat, nein, dafür ging er an seinen Arbeitsplatz. Es dauerte aber relativ lange, bis er davon wieder retour kam und kaum wollte er sich wieder neben seine Kollegin an den Besprechungstisch setzen, meinte er zu ihr,
„wir müssen jetzt noch herausfinden, warum nicht der das Projekt übernommen hat, denn der hat viel bessere Ideen, als sein Kollege.“
Was seine Kollegin mit einem zustimmenden Laut aus ihrem geschlossenen Mund bestätigte. Es ist eben manchmal so, als würden Besprechungen lediglich eine Bühne darstellen, bei der es eigentlich um ganz andere Angelegenheiten geht, als auf der Tagesordnung der Besprechung steht. Es ist, als wäre man Teil von zwei gleichzeitig stattfindenden Terminen. Einerseits die offizielle Besprechung, andererseits die Aufgabenstellung, warum wurde nicht ich Projektleiter dieses kleinen Projektes. Wahrscheinlich hatte mich deshalb auch der Architekt, übrigens ein relativ junger Mann, welcher mich, als ich ihn sah, sofort an meinen alten Schulkollegen Rüdiger F. aus der HTL in Salzburg erinnerte, es könnten beinahe Brüder sein, auch über die doch noch relativ kurze Planungsgeschichte in diesem Projekt ausgefragt.
Aber diese Frage hätte ich ihnen auch sofort beantworten können. Denn es ist, wie überall bei diesen „Organisierten“, in diesem Fall bei den selbsternannten „Sozial-Revolutionären“, es wurde einfach bestimmt! Hieß es in den letzten zwei Wochen vor Weihnachten noch, wir beide, also der „kleine Grenzer“ und ich, würden dieses Projekt gemeinsam bearbeiten, jeder seinen Teil für sich, er die Haustechnik, ich die Elektrotechnik, so war dies plötzlich Anfang Jänner ganz anders. Würde ich mich einfach dumm stellen, könnte ich sogar sagen, ich hätte davon gar nichts mitbekommen. Aber von einem Tag zu nächsten lief alles nur mehr über meinen Kollegen. Und dabei geht es eben nicht um Qualifikation, um Erfahrung, um Ideen etc., sondern dies wird einfach bestimmt und dabei geht es einfach nur um Systemtreue! Und um nichts anderes!
Der Architekt hatte danach noch mit mir lange über einzelne Themen diskutiert, daher wurde es mittlerweile lange nach 13:00 Uhr, obwohl wir bereits längst bei der Projektsitzung im Büro der Projektsteuerung sein sollten. Aber dann ging es los. Dieses Büro ist auch nicht weit entfernt am Kurfürstendamm.
Dort war ich anfangs regelrecht begeistert. Ich dachte mir, endlich wieder einmal ein Projekt, bei welchem die Projektbeteiligten auch etwas darstellen! Nicht wie zuvor bei diesem Projekt in Wiesbaden. Und es war auch wirklich so. Der erste Eindruck war äußerst positiv. Danach lauschte ich aufmerksam den Ausführungen der Projektbeteiligten. Schließlich war ich zum ersten Mal bei dieser Besprechung anwesend und ich wollte keinesfalls negativ auffallen. Zudem bin ich ja nur mit meinem Projektleiter mitgereist. Ich dachte mir, woher mögen all diese Leute wohl kommen. Einen richtigen Berliner Dialekt, so wie ich ihn kenne, hatte ich vergebens gesucht. Aber, ich dachte mir, woher sie auch immer kommen mögen und wenn, so wie es aussieht, auch alle aus dem ehemaligen Osten kommen mögen, die Besprechung gibt tatsächlich etwas her. Aber dann antwortete der Bauherr der Bauherr, ich hatte ihn schon die längste Zeit besonders beobachtet, denn schließlich ist er persönlich Eigentümer seiner Liegenschaftsverwaltungsgesellschaft. Daher war ich besonders neugierig, wie er wohl sein mag. Aber kaum hatte er zu sprechen begonnen, war ich regelrecht erschrocken, denn er sprach, wie einst mein Vorgänger in diesem kleinen Ingenieurbüro Andreas B. Immer wieder musste ich ihn nun ganz verwundert ansehen, den es war, als würde Andreas B. nun als gepflegter und wohlhabend aussehender Mann an diesem Tisch sitzen. Als dann auch noch der Kollege des Projektsteurers zu sprechen begann, ein Russe, der den Eindruck erweckt, als wäre er in einer Ringkampfarena zur Welt gekommen und diesen Sport von Kindesbeinen an trainiert hätte, war mir endgültig klar, in welche Mitte ich nun gekommen war. Beinahe während der gesamten Besprechung saß mein Kollege neben mir und zitterte regelrecht. Aber nicht, weil er etwa Angst vor der Besprechung hatte, dies soll es übrigens auch geben, sondern er hatte wohl mitbekommen, dass ich nun weiß, in welchem Umfeld dieses Bauvorhaben stattfinden wird. Es schien so, als wollte man mir dies auch zeigen! Denn unsere Anwesenheit bei dieser Besprechung war wirklich nicht von Nöten. Meist ging es ohnedies lediglich um die Gestaltung der Außenanlagen, wozu auch der Landschaftsarchitekt seine Planung dazu in einem Vortrag darbrachte. Er stoch allerdings auch aus allen anderen Teilnehmern regelrecht hervor und es tat regelrecht wohl, im bei seinen Ausführungen zuzuhören.
Ich fühle mich einfach immer unwohl in solch einem Umfeld. Es ist, als wäre ich in einer anderen Welt. Nicht allerdings deshalb, da ich nun als Österreicher in Berlin an solch einer Besprechung Teil nehme, sondern dabei habe ich es mit Personen zu tun, welche von sich aus einfach Unbehagen bei mir erzeugen. Daher war ich nur mehr froh, dem Ende dieser Besprechung entgegen zu sehen.
Um 17:00 Uhr mussten wir die Besprechung vorzeitig verlassen, denn unser Flugzeug würde nicht auf uns warten. Aber kaum waren wir am Gehsteig des Kurfürstendamms angekommen, klang es von einer weiblichen Stimme aus dem Hinterhalt, ich meine, es wäre von den Tischen des Cafés, gleich neben dem Eingang des Hauses, in welchem wir gerade waren,
„bin gespannt, was er jetzt sagt, denn da waren jetzt nur solche dabei, bis auf einen!“
Ich hörte dies und dachte mir sofort, das stimmt! Und der eine war der Landschaftsarchitekt, welcher mir auch sofort aufgefallen war. Er war eben ein Anderer! Aber, manchmal denke ich mir, diese Stasi-Liste, welche auch im Internet kursiert, ist es wert, sie in den Papierkorb zu werfen. Denn diese kann niemals vollständig sein. Zudem, es war nicht nur die Stasi, welche das DDR-Regime darstellte und so mancher ehemaliger Mitarbeiter dieses Ministeriums nicht besonders glücklich war, als dieses Regime zusammenbrach. Vielleicht nun sogar von einem neuen, dem real existierenden Sozialismus sehr ähnlichen, „modernisierten“ System, ohne diesen „politischen Sch.“ träumt?
Ab 21:00 Uhr war ich wieder in Frankfurt auf dem Rückweg in meine Unterkunft. Dabei legte ich allerdings in der U-Bahnstation Heddernheim eine Pause ein. Denn als Raucher hat man es mittlerweile nicht gerade einfach an solch einem Tag. Heddernheim ist eine offene U-Bahnstation, also eigentlich schon keine U-Bahnstation mehr, daher konnte ich mir dort meine Zigarette genehmigen. Aber kaum stand ich am hintersten Ende des Bahnsteiges, klang es, wieder von einer weiblichen Stimme, aus dem Hinterhalt,
„jetzt hoffen sie, wenn sie wieder nichts tun mit denen, dann geht er!“
Aber, bei all dem meist ohnehin unnützen Getue, wegen diesem „Neuen System“, wegen dieser „neuen Gemeinschaft“, wegen diesen „Organisierten“, glaubt wirklich noch irgendjemand, ich würde tatsächlich noch jemals Teil dieses Undings werden? – Vielleicht sogar werden wollen? – Hier wurden mir gegenüber, in den letzten zwanzig Jahren und gerade in den letzten vier Jahren, Grenzen überschritten, bei welchen es einfach kein Zurück mehr geben kann! Und diese Grenzen wurden dermaßen weit und in beinahe unvorstellbarem Ausmaß überschritten, sodass es sich diese Frage auch gar nicht mehr stellt! Ich habe auch hier manchmal den Eindruck, diese Personen sind einfach nicht in der Lage zu verstehen, was sie hier getan haben und immer noch tun! Daher gibt es für mich einfach nur zwei Alternativen. Entweder ich gehe daran zugrunde, weil man mich unbedingt in diesem Unding festhalten will, oder ich wehre mich dagegen!