Die neue Heimat derer von damals
München, Donnerstag, der 8. Oktober 2015:
Wie jeden Donnerstag hatten wir auch an diesem Donnerstag unsere sogenannte „interne Runde“. Nach dem ganzen Wies’n-Rummel, der sich auch auf den gesamten Arbeitsalltag während der Zeit des Oktoberfestes auswirkte, war dies endlich wieder einmal eine dieser Besprechungen, wie sie üblicherweise ablaufen.
Aber eine Kollegin fehlte mir bei diesen „internen Runden“ meist: Conny Sch. Sie war zwar nicht alle Tage im Projektbüro, aber auch wenn sie da war, an diesen Besprechungen nahm sie eigentlich nie Teil. So auch an diesem Tag. Ich hatte mit ihr kaum etwas zu tun. Lediglich ein einziges Mal, als sie für eine Kollegin bei einem Objekt eine kleine Aufgabe übernahm. Dabei ging es um die statische Dimensionierung eines Doppelbodens in den IT-Räumen der Mietbereiche für Büros. Hier sollte in den IT-Räumen ein Doppelboden eingebracht werden, welcher allerdings laut Ausschreibung lediglich eine Tragkraft von 5.000kNm², also rund 500kg/m² und eine Punktlast von gar nur 2.500kN/m² aufweist. Der Fachplaner hatte allerdings eine mögliche Last durch die einzubringenden IT-Schaltschränke von 400kg angegeben und diese Last würde die Tragkraft des ausgeschriebenen Doppelbodens in Bezug auf die höchstzulässige Punktlast übersteigen. Zudem hatte Jann E., der Verantwortliche für die Haustechnik seitens der Projektsteuerung und des Projekt Controllings diese mögliche Last der Schaltschränke auch bestätigt. Daher gab es bei diesem Objekt in dieser Angelegenheit große Aufregung, da hier scheinbar seitens des Architekturbüros der falsche Doppelboden ausgeschrieben wurde und nun deshalb statische Verstärkungen im Bereich der Aufstellfläche der Schaltschränke vorgenommen werden sollten. Sogar das Statikbüro wurde diesbezüglich um Stellungnahme und mögliche Maßnahmen zur Beseitigung des Problems gebeten.
Nachdem Jann E. allerdings bei der Fertigstellung eines ganzen Projektabschnittes voll eingedeckt war, meinte ihre Kollegin, sie sollte sich deshalb doch an mich wenden, denn schließlich handelt es sich dabei eigentlich um ein Problem der Gebäudetechnik und hier waren ja Kollegen im Projektbüro anwesend. Und da dies zudem in erster Linie den Bereich der Elektrotechnik betreffen würde, sollte doch ich mich um diese Angelegenheit kümmern, oder sie zumindest unterstützen. Diese Aufgabe übernahm ich dann auch sehr gerne für sie, denn besonders stark ausgelastet war ich ohnedies nicht bei diesem Projekt. Meist bestand meine ganze Tagesaufgabe darin, diversen E-Mail Schriftverkehr über das gesamte Projekt und aller Beteiligter zu lesen, was für mich nicht wirklich sehr erbauend war, daher war ich auch über diese Abwechslung sehr erfreut. Dabei lernte ich aber auch diese Kollegin als eigentlich sehr kompetente Kollegin kennen und fand es zudem sehr schade, nicht öfters mit ihr zu tun zu haben, denn andere Kollegen waren einfach nur schwierig, um dies vornehm auszudrücken.
Dieses Problem war dann allerdings sehr rasch durch eine einfache Stellungnahme durch mich geklärt, denn die Annahmen und, vor allem, die Schlussfolgerungen, ein Schaltschrank könnte eine mögliche Punktlast von 400kg darstellen, waren einfach falsch. Dabei hatte ich Conny Sch. zum ersten Mal, seit dem ich in diesem Unternehmen arbeitete, lachen gesehen. Denn sonst lief sie meist bedrückt und mit ernster Miene durch das Büro. Was zwar in Anbetracht ihrer Kollegen weiter nicht besonders verwunderlich war, aber sie schien auch noch etwas anderes sehr zu bedrücken. Ich hatte mir darüber keine weiteren Gedanken gemacht, hatte ich doch selbst mehr als genug am Hals.
An diesem Tag, ich kam nach der Mittagspause wieder zurück ins Büro, holte mir, wie üblich, gleich eine Tasse Kaffee, da saß sie allerdings auf einmal in der Teeküche am Tisch und unterhielt sich mit Florian B, einem der Projektleiter der Projektsteuerung. Zuerst wollte ich gar nicht zuhören, denn ich dachte mir, hier könnte es um private Probleme gehen, so bedrückt saß sie am Tisch, mit dem Rücken zur Eingangstür. Aber dann lauschte ich doch aufmerksam, denn, als ich zur Tür hinein kam, da meinte sie zu Florian B.,
„nun sind die alle wieder da und alles geht wieder von vorne los mit denen.“
Das hörte sich für mich nun gar nicht mehr nach privaten Problemen an, daher lauschte ich umso mehr, denn ich wusste, sie stammt aus Leipzig. Und dann fragte Florian B. nach,
„warst Du damals mit dabei?“
Und sie,
„Ja! Ich bin auch vom Land Thüringen ausgezeichnet worden für das, was wir damals gemacht hatten!“
Und nach einer kurzen Weile fuhr sie weiter fort,
„aber das haben damals schon alle gesagt, so wie die sind, geben die nie auf. Die kommen wieder, egal was kommt! Und jetzt haben die in diesem Polizeidienst ihre neue Heimat gefunden!“
Nun wurde mir auch klar, was sie meinte. Sie war offensichtlich in der Widerstandsbewegung kurz vor der Wende und wurde dafür auch vom Land Thüringen ausgezeichnet. Also kann ihr Tun damals nicht ganz unbedeutend gewesen sein. Und wenn sie nun auch mitbekommen hat, dass jene von damals, gegen welche sie sich gestellt hatte, nun wieder da sind und ihre neue Heimat dieser sogenannte Polizeidienst sei, dann verstehe ich auch, warum sie so bedrückt ist und kann dies nur allzu gut nachvollziehen. Sie hatte zwar nicht dezidiert gesagt, wen sie damit meinte, zumindest hatte ich dies während meiner Anwesenheit in der Teeküche nicht zu hören bekommen, aber es schien mir klar zu sein.
Aufdringlich wollte ich keinesfalls werden, daher nahm ich dies einfach nur für mich auf, dachte mir aber, mit ihr würde ich mich gerne einmal viel, viel länger unterhalten. Ich verließ die Teeküche und nahm mir vor, zu versuchen mit ihr näher in Kontakt zu treten, ohne den Rest der Kollegen die mitbekommen zu lassen. Ich wollte mich mit ihr über dieses Thema intensiv austauschen, denn bei ihr, dachte ich mir, hätte ich dafür eine interessante Gesprächspartnerin gefunden.
Am folgenden Montag allerdings hatte uns Rainer St., der Leiter für den Bereich der Gebäudetechnik im Rahmen unserer jeden Montag morgens um acht stattfindenden Abteilungsbesprechung, um dies einmal so zu bezeichnen, wie der offizielle Besprechungstitel lautete, unter dem Titel Neuigkeiten mitgeteilt, Conny Sch. wird nach Berlin versetzt werden. Somit konnte ich mein Vorhaben wieder begraben.
Wenige Tage später dachte ich mir, sie hätte genau dies an jenem Donnerstag nicht vor Florian B. sagen sollen!