„Ich tu‘ jetzt alle weg, die nicht mit dabei sind!“
W.-E., Mittwoch, der 22. Mai 2013:
Am nächsten Morgen, ich war ja kurz nach Mitternacht wieder in W.-E. angekommen, stand ich, wie jeden Tag, kurz vor 6:30 Uhr vor der Gaststätte meiner Vermieterin und wartete, bis sie aufsperrt, damit ich bei ihr Frühstücken kann. Eigentlich hatte ich an diesem Morgen damit gerechnet, meine Vermieterin würde die meiste Zeit bei mir am Tisch sitzen, Zeitung lesen und sich mit mir unterhalten, denn es waren nicht viele Gäste in ihrem Haus. Das war auch kein Wunder, waren doch in dieser Woche Pfingstferien in Baden-Württemberg. Daher war auch der Parkplatz vor dem Haus beinahe leer.
Doch kaum saß ich in der Gaststätte, wie immer am Stammtisch, trank meinen Kaffee und aß mein Brötchen dazu, kam meine Vermieterin zur Tür herein und hatte einen Hausgast bei sich. Ich traute meinen Augen nicht, aber sie saß ihn doch glatt zu mir an den Stammtisch. Dabei wäre doch der Saal leer gewesen, wo sie allerdings auch an diesem Tag einige Tische zum Frühstück gedeckt hatte. Doch sie saß diesen Gast tatsächlich zu mir an den Tisch. Zudem hatte es den Anschein, dieser Gast wollte auch unbedingt bei mir am Tisch sitzen. Ich hatte ihn zuvor noch nie gesehen. Es war ein jüngerer Mann mit kahl geschorenem Kopf – das Reden war nicht seine Stärke, denn er sagte nicht einmal „guten Morgen“. Er setzte sich einfach zu mir an den Tisch, direkt gegenüber. Meine Vermieterin bediente ihn, gab ihm Kaffee, er holte sich Gebäck und aß bei mir am Tisch. Dabei sprach er aber überhaupt nie ein Wort. Er grinste lediglich nur.
Nun wurde ich schon richtig zornig, denn ich fragte mich, was denn dies nun wieder werden solle. Wenn er sich schon unbedingt zu mir an den Tischen setzen wollte, dann könnte er doch wenigstens auch etwas sagen. Aber nicht einmal guten Morgen sagen konnte er – er grinste einfach immer wieder einmal. Las etwas Zeitung, dann blickte er wieder auf sein Mobiltelefon und schwieg. Mir wurde es schön langsam zu bunt. Gut nur, dass ich schon fast mit meinem Frühstück fertig war, daher ging ich vor die Tür, sonst wäre ich beinahe explodiert. Solch eine grinsende Fratze brauche ich nicht auch schon zum Frühstück.
Als ich so vor der Tür stand, kam regelrecht Zorn in mir hoch, wegen dieses widerwärtigen Tischnachbars. Dabei war es doch der Vorschlag meiner Vermieterin, mich mit Frühstück zu versorgen, wofür ich nicht einmal etwas zahlen musste, und bei ihr am Stammtisch zu sitzen. Bis September des vergangenen Jahres war ich ohnedies schon nicht mehr Frühstücken gekommen. damals saß ich noch im Saal, wie jeder andere Gast. Aber nachdem ich beinahe jeden Tag erhebliche Magenprobleme nach dem Frühstück bekam, hatte ich Mitte 2011 aufgehört, bei ihr Frühstücken zu gehen und – siehe da – meine morgendlichen Magenprobleme waren auch verschwunden. Aber Anfang September des vergangenen Jahres fragte sich mich von sich aus, ob ich denn nicht wieder bei ihr morgens Frühstücken kommen und mich zu ihr an den Stammtische setzen wolle.
Nun aber reichte es mir, denn dieses morgendliche Szenario war ohnedies nicht auszuhalten. Ihr Zeitungslesen war mehr ein Versuch dies zu tun. Dabei begann sie jedes Mal bei den Todesanzeigen – es war kaum zu ertragen. Zudem, man konnte sich auch nie wirklich unterhalten. Auch abends nicht. Und dies nicht etwa deshalb, da sie regelmäßig vom Tisch aufsprang um einen Gast zu bedienen, sondern sie war einfach unausstehlich. Ich dachte mir immer, wenn sie über mich in meiner Abwesenheit auch so spricht, wie sie dies über andere tut, dann wundert mich gar nichts mehr. Selbst wenn einmal eine Basis für eine Unterhaltung gefunden war, dann endete dies meist wieder nur im Ausrichten anderer Leute. Also, ich sprach ohnedies nur mit ihr aus reiner Höflichkeit. Nun, nach diesem Erlebnis, da sie mir auch noch solch einen Gast an den Tisch zum Frühstück setze, reichte es mir. Ich beschloss, nie wieder in diese Gaststätte zu gehen.
Ich war richtig froh, als ich kurz nach sieben Uhr zur S-Bahn hoch gehen und mich von diesem Haus entfernen konnte.
Als ich am späteren Nachmittag von der Arbeit im Amt zurück zu meinem Appartement kam, ging ich noch bei der Bank vorbei, um mir Geld vom Geldautomaten abzuheben. Daher näherte ich mich an diesem Tag von der anderen Seite dem Haus. Ich wollte mich aber trotzdem wieder vor den Eingang der Gaststätte stellen, um meine letzte Zigarette zu rauchen, bevor ich auf mein Appartement hoch ging, so wie ich es eigentlich jeden Tag tat. Aber kaum hatte ich mich dem Haus genähert, hatte ich meine Vermieterin schon gehört. Ich bog um die Ecke, um Richtung Eingang zur Gaststätte zu gehen, da stampfte sie aus ihrer Gaststätte über den Hof wie eine Furie um in ihr Gästehaus zu gehen. Dabei schrie sie beinahe mit ihrer alles durchdringenden Stimme,
„ich tu‘ jetzt alle weg, die nicht mit dabei sind!“
Dies in einem Ton der einem durch alle Knochen fährt und einem den kalten Schweiß über den Rücken laufen lässt!
Ich weiß nicht, was zuvor vorgefallen war, weshalb sie derart aufgebracht aus der Gaststätte Richtung Gästehaus stürmte, aber eigentlich wollte ich es auch gar nicht mehr wissen. Mir war ohnedies klar, was sie meint. Sie will keinen mehr in ihrem Haus haben, der nicht bei ihrer ominösen Organisation dabei ist!
Aber, was sollte ich tun? Ich wohnte noch bei ihr in einem ihrer Appartements, direkt in ihrem Haus. Daher werde sie mir wohl auch noch öfters über den Weg laufen. Aber das nahm ich in Kauf, denn ich wollte mir hier in Stuttgart keine andere Wohnung mehr suchen, denn ich wollte ohnedies längst wieder weg von hier.
Ab diesem Tag war sie für mich nur mehr die „verrückte Tante“, denn sie fauchte und stampfte ohnedies durch ihr Haus, wie ein wildgewordener Hausdrache. Jeder, der sie einmal hautnah erlebt hat, weiß wovon ich spreche. Manchmal war dies zwar auch zum Lachen, nicht selten amüsierten wir uns abends am Stammtisch köstlich über sie, aber wenn sie richtig in Fahrt war, dann ging ihr jeder, so gut es geht, aus dem Weg. Es hatte sogar den Anschein, auch ihre kleine Tochter hatte in solch Momenten Angst vor ihrer Mutter.
Dieser Tag war jedenfalls der letzte Tag, an dem ich ihre Gaststätte betreten hatte!