Die Nachträge
W.-E., Dienstag, der 5. Oktober 2010:
Eigentlich hätte alles so schön begonnen, nach meinem Urlaub. Mir viel sogar auf, hier in dieser Gegend laufen auch ganz andere Menschen herum. Beinahe wäre ich zur Ansicht gekommen, es könnte sich vielleicht doch lohnen, sich hier niederzulassen. Aber das sollte schnell wieder vergehen.
An meinem zweiten Arbeitstag nach meinen Urlaub herrschte schon seit dem frühen Morgen in der Arbeit große Aufregung, denn der zweite neue Geschäftsführer, Norbert J., der kaufmännische Geschäftsführer, war zur Ansicht gekommen, ich sollte für das gesamte Projekt auch die Kalkulation für alle Nachträge übernehmen. Kurz vor meinem Urlaub hatte ich doch noch die Rechnung für den ersten Projektabschnitt gelegt und in dieser Rechnung waren auch alle bisher freigegebenen Nachträge enthalten. Freigegebene Nachträge gab es jedoch nur für jenen Bereich, welchen ausschließlich ich betreute, nämlich die technische Ausstattung der Tunnelanlagen. Den Bereich der Verkehrstechnik betreute im ersten Abschnitt noch Armin L. Dieser hatte zwar die meisten Nachträge und dabei auch die größte Angebotssumme für Nachträge ausgearbeitet, jedoch wurde kein einziger Nachtrag von ihm freigegeben. Nicht einmal dem Grunde nach wurden seine Nachträge freigegeben, denn seine Kalkulationsansätze – zugegeben, diese stammten nicht von ihm alleine, hier hatte auch Ingo W. und vor allem Herr D. und Herr R. selbst mitgearbeitet – diese Kalkulationsansätze waren allerdings derart an den Haaren herbeigezogen, sodass selbst der Auftraggeber meinte, diese dürfen so keinesfalls in die Rechnung einbezogen werden, denn so werden sie niemals freigegeben. Beinahe wäre es deshalb zu gröberen Meinungsverschiedenheiten zwischen Auftraggeber und Firma D. gekommen. Meine Nachträge wurden allerdings alle dem Grunde nach freigegeben und konnten auch in die Rechnung mit aufgenommen werden, die genaue Höhe der Nachtragssummen sollte nach Beendigung des ersten Abschnittes in Form einer Nachtragsverhandlung festgestellt werden. Ehrlich gesagt, ich war etwas überrascht über diese Bezeichnung, denn dass es bei Nachträgen bei einem Auftrag der öffentlichen Hand Nachtragsverhandlungen gibt, hatte ich bisher auch noch nie erlebt. Aber ich dachte mir nichts Besonderes deshalb, schließlich und endlich bin ich hier ja in deinem anderen Land – und in anderen Ländern herrschen bekanntlich auch anderen Sitten.
Aber so kam es, dass ich gegen Mittag zur Geschäftsführung gerufen wurde und Herr R. teilte mir mit, ich sollte doch auch für Armin L. die Kalkulation und Formulierung der Nachträge übernehmen, denn der Auftraggeber hatte ja die Rechnung für den ersten Projektabschnitt anstandslos bereits bezahlt. So saß ich bei Herrn R. in seinem neuen Büro, mittlerweile hatte er auch das Büro von Herrn D. übernommen, welcher in einen Nebenraum ausgewichen ist, Herr N. und Herr D waren auch dabei, und mir wurde die Ausarbeitung aller noch ausstehenden Nachträge für den ersten Abschnitt übertragen. Als ich zur Tür hinaus ging, hörte ich Herrn D. in seiner für ihn so typischen immer aufgeregten und erniedrigenden Art, mit einem entsprechenden Unmutsausstoß noch sagen,
„Hah! Die können das nicht!“
Er hatte sich schon die ganze Zeit darüber immer wieder aufgeregt, dass diese Nachträge von Armin L. regelrecht zurückgeschmettert wurden und ihn deshalb sogar der Gesamtprojektleiter Kurt E. persönlich angesprochen hatte. Um das Projektziel, die vorzeitige Verkehrsfreigabe und somit die Ausbezahlung dieser Beschleunigungsvergütung nicht zu gefährden, hatte man sich darauf geeinigt, die Arbeiten trotzdem auszuführen und die kaufmännischen Angelegenheiten danach bei dieser Nachtragsverhandlung zu klären.
Dazu brauchte es allerdings eine entsprechende Ausarbeitung dieser Nachträge, mit Kalkulationsnachweisen und einer entsprechenden Begründung und dies auch noch in die passende Formulierung gebracht.
Kurz nach der Mittagspause ging ich dann zu Armin L. um mit ihm darüber zu sprechen und einmal auszuloten, wie er denn darauf reagieren werde, doch er hatte bereits davon Wind bekommen, dass er von dieser Last befreit wird und war auch ganz froh darüber. Aber kaum ging ich mit den Unterlagen für diese Nachträge wieder zurück an meinen Arbeitsplatz, lief mir D. über den Weg. Er lächelte ganz verschmitzt und sagte laut vor sich her,
„damit es nicht so einseitig wird!“
Er hatte ihnen also schon wieder geholfen, denn er wusste, kaufmännische und organisatorische Angelegenheiten gehören nicht zu den Stärken seiner Stammmannschaft. Alleine mit seinen offenen Abrechnungen hinkte er überall mehr als zwei Jahre hinterher. Und so sollte ich nur für Armin L. den Karren aus dem Dreck ziehen, damit auch er wieder gut da steht.