Das vergessene Verkehrszeichen
Nachdem ich nun die Verantwortung für dieses Projekt übernehmen musste, war es auch meine Aufgabe, dieses Projekt zu einem Erfolg zu führen. Dabei standen hier weniger Projektmanagement Methoden im Vordergrund, viel mehr bestand meine Aufgabe darin, mich hier als Raubtier Dompteur die Truppe und ihre einzelnen Mitglieder in ihrer individuellen Befreiung im Zaum zu halten.Aber trotzdem hatte ich versucht, eigentlich Selbstverständlichkeiten in den Projektablauf einfließen zu lassen. Dazu gehörte natürlich auch die Prüfung und Freigabe aller Schaltpläne, bevor sie in die Werkstätte zur Fertigung gingen. Aber dies stößte auf erheblichen Widerstand seitens der Konstrukteure. Gerade ein Kollege, Andy A., der sich selbst als beinahe unfehlbar hielt, fühlte sich in seiner Ehre schwer gekränkt. Doch auch Armin L., der für die Verkehrssteuerung zuständig war und auch der Werkstättenleiter teilten meine Ansicht, sodass die Pläne geprüft wurden, denn beide hatten in der Vergangenheit schon viele schlechte Erfahrungen gemacht. Allerdings kam es meist bei der Prüfung und der Rückmeldung an die Konstruktion zu Auseinandersetzungen zwischen den Konstrukteuren und den Prüfern, auch mit mir.
Eines Tages, es war bereits Mitte Juni 2010 und die Verkehrssperrung und damit die Arbeiten vor Ort, standen kurz bevor, kam es wieder einmal zu solchen Auseinandersetzungen. Armin L. hatte seine Pläne für die Verkehrssteuerung geprüft und dabei festgestellt, es fehlt eine Ansteuerung für ein Wechselverkehrszeichen, diesen Verkehrsschildern, wo mit LEDs mehrere Verkehrszeichen an einem Schild angezeigt werden können. Ich bekam die fast tumultartigen Szenen im Konstrukteursbüro zu hören, dieses Büro lag gleich neben meinem Büro, und ging rüber um zu sehen, was denn nun schon wieder los sei. Kaum angekommen, war die Ursache schon klar. Armin L. tobte, denn Andy A. hatte die Ansteuerung eines Verkehrszeichens, einer 70 km/h Geschwindigkeitsbegrenzung vor den Tunnelportalen, vergessen, wollte aber seinen Fehler keinesfalls einsehen. Vielmehr müsste die gesamte Verkehrssteuerung fehlerhaft sein, als dass er einen Fehler begangen haben könnte.
Nun wollte ich die Situation durch einen kleinen Scherz etwas entschärfen und sagte,
“Armin, dass musst Du schon verstehen, der Mann kommt aus dem Osten, der ist Geschwindigkeitsbegrenzungen noch nicht so gewohnt! Der Trabbi ging eben nicht so schnell!”
Darauf folgte kurzes Gelächter im Büro, dann wurde es aber still, denn jeder hatte mitbekommen, Andy A. holte tief Luft. Und dann fuhr er mich an,
“hast Du ‘ne Ahnung! Wir hatten Dacia mit Renault Motor! Wir hatten sogar Telefon!”
Nun wurde es ganz still im Büro, denn jeder wartete ab, wie ich wohl darauf reagieren werde. Ich reagierte darauf aber gar nicht, denn ich wusste ja, Andy A. kam aus den neuen Bundesländern und kurz nach der Wiedervereinigung in ehemaligen Westen kam. Es ist ja auch hinlänglich bekannt, gerade Personen aus dem Staatsapparat der DDR waren die ersten, welche in den Westen kamen, daher war ich überhaupt nicht überrascht. Andy A. wetzte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer Begründung, warum denn dieses Verkehrszeichen überhaupt nicht notwendig sein.
Nach einer kurzen Weile meinte Siggi K., der nur halbtags beschäftigt war, da er eigentlich “Wengerta”, also ein schwäbischer Weinbauer war und auch nur dann arbeitete, wenn er nicht gerade für seinen Trollinger am Öxle zählen war,
“jetzt weißt Du, woher der ist!”
Andy A. tobte beinahe, denn nun war er nicht nur eines Fehlers in seinen Plänen überführt, er fühlte sich wohl auch als ehemaliger DDR Bürger gekränkt. Nachdem Siggi K. dann noch in seinem urschwäbischen Dialekt nachlegte und zu Andy A., der ihm am Tisch direkt gegenüber saß, sagte,
“Andy! Was hast Du vergessen, die 70km/h? – Da hat er aber recht, denn der Trabbi – diese Rennpappe – erreicht 70 km/h höchstens im freien Fall!”
Nun war es endgültig aus mit Andy A. Er war wohl an einem wunden Punkt getroffen und verkrümelte sich hinter den Bildschirmen auf seinem Schreibtisch. Aber es hatte gewirkt. Er begann tatsächlich seine Pläne zu überarbeiten und die Fehler auszubessern. Damit kehrte wieder Ruhe in den Büroalltag bei Firma D. ein. Zumindest vorübergehend.
Dass Andy A. tatsächlich bei der Stasi war, oder vielmehr noch ist, hat er mir lange nachdem ich bereits wieder aus dem Unternehmen von D. ausgeschieden war, eindeutig bestätigt. Er kam Anfang März 2013 eines Abends in die Gaststätte, meine Vermieterin hatte mir schon angekündigt, er würde kommen und mit mir sprechen wollen, denn man wollten mich offensichtlich dazu überreden, wieder zu Firma D. zurück zu kehren, und setzte sich zu mir an den Stammtisch in der Gaststube. Er erzählte mir dabei von sich und seinem Leben und woher er eigentlich stammt, nur um mit mir tiefer ins Gespräch zu kommen. Sein Vater hätte als Vorarbeiter in einem Kraftwerk in Rostock arbeitet und er hatte auch gerade selbst dort zu arbeiten begonnen, als dann die Wende kam und für ihn von einem Tag zum Nächsten alles aus war. Wir unterhielten uns dann zudem noch über diverse Methoden, welche die Stasi angewendet hatte, um ihre Systemfeinde ausfindig zu machen. Da fragte er mich,
“woher weißt Du denn das alles?”
Als ich ihm darauf antwortete,
“ich brauchte doch nur euch zuzusehen!”,
schlug er mit der Faust auf den Tisch als hätte ich ihn gerade ertappt!
Ab diesen Tag war mir klar, warum gerade in meinem Alter so viele diesem “neuen System” zugänglich sind. Denn für sie wäre in der DDR ihr Leben vorgezeichnet gewesen und dies in einer äußerst privilegierten Gesellschaft. Dies war allerdings bei der Wende von einem Tag auf den anderen ganz anders. Daher ist es auch ein Leichtes für sie, Altersgenossen aus dem ehemaligen Westen zu finden, welche einem ähnlichen System sehr zugänglich sind.
Andy A. sollte mir noch des Öfteren in besonderer Weise auffallen.