Prag, Pilsen, München, Dienstag, der 8. Juli 2008:
Gleich am Morgen, nach dem Frühstück im Hotel, ging es mit Kurt M. zu diesem Hotelprojekt nach Pilsen. Gar nicht erst noch einmal ins Büro zuvor. Obwohl die Baubesprechung, an welcher wir dort teilnehmen sollten, erst am Nachmittag stattfand. Was mich doch zuerst etwas verwunderte. Dann aber doch wieder nicht. Denn besonders wohl, oder gar willkommen, schien sich Kurt M. in der Niederlassung in Prag nicht gerade gefühlt zu haben. Was mir auch so ging. Denn dort waren wir eher ein Fremdkörper im Büro. Niemand der sich auch nur im Geringsten um unsere Anwesenheit dort gekümmert hatte. Ganz im Gegenteil. Es war eher so, als hätten sich dort die Kollegen gefragt, was wir dort überhaupt zu suchen hätten. Nicht zuletzt deshalb, weil Kurt M. regelrecht um einen Besprechungsraum für seine Verhandlung mit dieser Vertreterin des Netzwerklieferanten für das Hotelprojekt in Pilsen kämpfen musste, obwohl er im Büro offenbar schon vor langer Zeit einen Besprechungsraum reserviert hatte. Andererseits wunderte mich dies dann doch wieder nicht. Denn derart verdutzt und vor den Kopf geschlagen, wie sich diese Vertreterin bei und nach der Verhandlung gefühlt haben musste, könnte dies längst auch bis zu den Kollegen in Tschechien durchgedrungen sein, dass es offensichtlich etwas schwierig ist, mit Kurt M. zu verhandeln. Auch wenn er nicht gerade der stärkste Verhandler ist.
An der Auffahrt auf die Autobahn nach Pilsen stand dann noch ein Anhalter mit einem Schild, an welchem München zu lesen war. Da meinte Kurt M. gar, wäre er nicht mit dem Firmenfahrzeug unterwegs, dann würde er diesen glatt mitnehmen. Wobei er mir dies mit seiner Nähe zu Leuchten aus dem ehemaligen Osten erklärte. Denn diese wären noch viel, viel bodenständiger als Leute bei uns. Weshalb er auch mehrmals überlegte, da auch noch viel Zeit bis zur Besprechung wäre, vielleicht doch noch einmal umzudrehen und den Anhalter doch noch mitzunehmen.
So kamen wir dann auch noch etwas auf seine bisherige berufliche Tätigkeit zu sprechen. Wobei er mir erklärte, auch schon früher im Osten. Gerade in der DDR beruflich tätig gewesen zu sein. Jedoch stieg ich ihm dabei aus dem Gespräch aus. Denn um so viel älter schien er auch nicht zu sein als ich. Und ich war gerade mal zwanzig Jahre alt geworden, als die Mauer fiel. Weshalb ich ihm dies nicht wirklich glaubte. Schon gar nicht, als er mir dann auch noch erklären wollte, gerade in der DDR hätte er, ganz im Gegenteil zu Österreich, niemals Probleme gehabt, wenn er nach der Arbeit bei einem Projekt in der DDR mit Kollegen noch auf ein Bier gegangen wäre und danach mit dem Auto in die Unterkunft gefahren wäre. Schließlich galt doch im ehemaligen Osten, so viel ich weiß, ohne zu recherchieren, beinahe überall eine 0,0 Promille Grenze. Aber dazu meinte er, dies wäre eben im Osten nicht so eng gesehen worden. Und zudem, wenn schon, dann eben nur nicht ganz systemkonforme Personen davon betroffen gewesen. Wäre jemand ein systemtreuer Diener des Staates gewesen, dann hätte er beinahe alles tun können, was er wollte, ohne belangt zu werden. Ich fand dies aber trotzdem nicht uninteressant, was er mir da erzählte. Schließlich zeigte dies, wie er sich solch ein System zumindest vorstellen würde, wenn es schon mehr als unwahrscheinlich war, dass er es tatsächlich selbst erlebt hatte.
Gegen Mittag auf der Baustelle in Pilsen angekommen, ging es erst einmal auf einen ausführlichen Baustellenrundgang. Schließlich war noch mehr als genug Zeit, bis die Baubesprechung begann. Dabei schilderte mir Kurt M. seine Probleme, welche er gerade bei Baustellen im ehemaligen Osten mit den ausführenden Unternehmen hätte. Denn diese würden einfach irgendwelche Materialien verwenden, um die geforderten Leistungen zu erbringen. Bei dieser Baustelle hatte gerade der Innenausbau begonnen. Wobei somit der Elektriker gerade mit den Verkabelungen begonnen hatte. Und mir Kurt M. dabei erzählte, dieses Unternehmen würde zum Beispiel für die Brandmeldeanlage einfach irgendwelche Fernmeldeleitungen verwenden, welche für solch eine Anlage gar nicht zugelassen wären. Dieses Problem hätte er allerdings schon unzählige Male gehabt. Immer wieder das Gleiche, wie er meinte. Weshalb er schon vor einigen Wochen das Unternehmen nicht nur bei den Besprechungen, sondern auch schriftlich aufgefordert hätte, die für die jeweiligen Anlagen, gerade eben für die Brandmeldeanlage, die dafür zugelassenen Kabel zu verwenden. Dies müsste er zudem auch heute unbedingt wieder bei der Besprechung anbringen, denn, wie er mir anhand eines Beispiels zeigte, würden immer noch einfach irgendwelche Kabel verwendet werden.
Doch dies hatte auch einer der am Bau beschäftigten Elektriker mitbekommen, wie mir dies Kurt M. mehrmals zeigte. Weshalb dieser, als die Baubesprechung immer näher rückte und sich immer mehr Teilnehmer der Besprechung auf der Baustelle einfanden und deshalb Kurt M. dadurch anderweitig beschäftigt war, auf mich zugekommen war und mir erklärte, sie hätten überhaupt erst kürzlich mit der Verkabelung der Brandmeldeanlage begonnen. Daher wären erst einige Abschnitte dieser Anlage verkabelt. Allerdings auch mit den richtigen Kabel, wie mir nun dieser zeigte. Jene Kabel, welche mir zuvor Kurt M. zeigte, wären lediglich Kabel für andere schwachstromtechnische Anlagen und hätten überhaupt nichts mit der Brandmeldeanlage zu tun. Ganz aufgelöst war dieser Elektriker. Wohl kein Monteur. Sondern auch ein in der Folge an der Besprechung teilnehmender Vertreter des ausführenden Unternehmens. So meinte dieser weiter, ich sollte doch auch Kurt M. darauf aufmerksam machen, dass es einfach nicht der Wahrheit entsprechen würde, was Kurt M. über die bisherigen Verkabelungen berichten würde. Es schien wohl schon mehrere Wochen deshalb Probleme zu geben. Denn dieser Eklektiker ließ mich gar nicht ehr aus, bevor ich an Kurt M. dies weitergegeben hatte. Was ich dann auch noch kurz vor der Besprechung tat.
Doch kaum hatte die Besprechung begonnen, da fing Kurt M. schon wieder damit an, dass der Elektriker nach wie vor falsche Kabel verwenden würde und dies deshalb auch noch einmal in das Protokoll aufzunehmen wäre, damit dieser dies abstellen würde. Dabei sah ich nun den Vertreter des ausführenden Unternehmens an, welcher mich zuvor so eindringlich vom Gegenteil überzeugen wollte, wie dieser resignierend an seinem Platz am Besprechungstisch saß und kaum mehr wusste, wie er darauf reagieren sollte. Ich selbst wollte mich dabei heraushalten. Schließlich würde ich, so der Plan, mit diesem Projekt ohnedies nichts weiter zu tun haben und, wer weiß, ob mir der Elektriker auch das richtige erzählt hatte. Doch verstehen konnte ich ihn schon. Weshalb ich, als auch dieser mich anblickte, etwas mit den Achseln zuckte, denn auch ich wusste nicht, wie ich dies Kurt M. beibringen sollte.
So wurde ich nun doch etwas nachdenklich über Kurt M. Denn gestern nach dessen Verhandlung mit der Vertreterin des Netzwerklieferanten für dieses Hotel, und auch noch heute Vormittag, dachte ich mir, dahinter könnte auch durchaus eine Strategie von Kurt M. liegen. Doch nun schien es so, als ginge es Kurt M. eher darum, Probleme, die gar nicht existieren, zu erzeugen, um damit Stimmung und sich damit auch wichtig zu machen. Denn eine Strategie war darin nun wirklich nicht mehr zu erkennen. Außer andere schlecht zu machen, obwohl offenbar das Problem bei einem selbst lag.
Wenn es eines gab, was ich an dieser Baubesprechung besonders erwähnenswert, weil für mich auch lustig, fand, dann war es dies: Diese Besprechung fand auf Tschechisch statt. Welches offensichtlich auch die offizielle Projektsprache war. Wobei das Projekt allerdings von der Niederlassung aus Linz betreut wurde. Weshalb nun auch der Niederlassungsleiter aus Linz extra für diese Besprechung angereist war. „Direktor“ ließ sich Herr W. sogar nennen. Ein Österreicher, der offenbar allerdings kein Tschechisch, wie mehrere Beteiligte am Bau, sprechen konnte. Daher hatte Herr „Direktor“ W. neben sich eine Synchron Dolmetscherin sitzen, die ihm jedes am Tisch gesprochene Wort sofort auf Deutsch in sein Ohr flüsterte. Aber auch umgekehrt. Kaum hatte „Direktor“ W. etwas auf Deutsch in die Runde gesprochen, so folgte prompt die tschechische Übersetzung von seinen Schultern. Es war beinahe so, als würde diese, schon etwas ältere Dame bei ihm auf den Schultern sitzen und ihm alles ins Ohr flüstern, was im Raum gesprochen wurde. Ein Bild, welches ich nicht mehr vergessen konnte. Denn schließlich sah dies aus, wie in einem Film aus Zeiten als es den Ostblock noch gab.
Wenn es eines gab, was ich in diesem Unternehmen in den wenigen Tagen, in welchen ich nun hier arbeitete, mitbekommen hatte, allerdings überhaupt nicht verstanden hatte, dann war es dies, weshalb bloß wird von diesem Immobilienentwicklungsunternehmen, bei welchem eigentlich der Unternehmensschwerpunkt bei der Entwicklung von Immobilien liegen müsste, offenbar bei allen Projekten auch die Bauüberwachung selbst durchgeführt. Gerade im Bereich der Bautechnik. Etwas, dass ich bisher so eigentlich gar nicht kannte. Schließlich wäre es doch für das Unternehmen viel einfacher, gerade diese Leistungen an Architektur- und Ingenieurbüros zu übergeben und sich selbst nur auf die Umsetzung und deren Kontrolle der Vorgaben durch das Unternehmen zu beschränken. So hatte ich es auch für meine Tätigkeit erwartet. Nicht dass ich damit ein Problem hatte, ich hatte es mir einfach nur anders vorgestellt. Ich kannte dies allerdings auch ganz anders. Gut, dieses Unternehmen hatte nun dafür eine eigene Abteilung. Aber in Summe niemals genügend Personal, um alle Projekte auch in der Ausführung selbst zu betreuen. Und eben nicht nur zu betreuen, sondern dabei auch die Bauüberwachung selbst auszuüben. Aber gut, so war dies nun einmal in diesem Unternehmen. Auch wenn ich damit nicht wirklich gerechnet hatte.
Allerdings war ich darüber auch bereits etwas enttäuscht. Denn ich stellte es mir einfach viel einfacher vor, würde bei so einem Projekt die Bauüberwachung von hiesigen Architekten und Ingenieurbüros übernommen werden und unsere Aufgabe bestünde lediglich darin, diese Büros entsprechend zu führen. Dann gäbe es auch keine derartigen sprachlichen Schwierigkeiten, wie sie hier zu erkennen waren. – Aber wahrscheinlich auch mich bei meinem Projekt in Bukarest erwarten würden.
Nach gut einer Stunde war die Baubesprechung wieder zu Ende und es ging weiter mit Kurt M. nach München. Eine elendslange Fahrt. Denn bis Deggendorf ging es auf Bundestraßen durch den Böhmerwald. Weshalb ich mir dachte, das darf ich niemanden erzählen, wofür ich nun schon zwei Tage lang unterwegs war. Glich dies doch mittlerweile eher einer Ausflugsfahrt.
An einer Raststätte an der Autobahn vor München hielt Kurt M. dann an. Schließlich hatten wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Dort wurde mir wieder einmal klar, wie aufmerksam alles verfolgt wird, was ich gerade mache. Denn kaum hatten wir uns dort einen Platz gesucht, meinte ein Gast an einem der umliegenden Tische,
„gut, dass der jetzt bei denen ist. Denn da kann er überhaupt nichts tun!“
Wäre Kurt M. nicht an diese Raststätte gefahren, dann wollte ich ihn schon dazu drängen, am Weg nach München die Gaststätte, das Hotel, in welchem ich mein Zimmer hatte, als ich für VA Tech in „München“ tätig war. Denn es hätte mich interessiert, wie dort auf meine Anwesenheit nun reagiert worden wäre. Schließlich hatte ich doch dort erst vor wenigen Wochen ein besonderes Erlebnis gehabt.
Gespannt war ich, worin denn der Zweck des Besuches in München nun liegen würde. Hatte mir doch Kurt M. dazu gar nichts erzählt. Nur, dass es sich dabei um ein ehemaliges Projekt handelt, welches er betreut hatte und dabei im Betrieb noch zu einigen erforderlichen Nachbesserungen bei diversen Anlagen kommen würde, welche erst nu zu Tage traten.
Allerdings soll es zu größeren Diskussionen bezüglich der am Dach errichteten Blitzschutzanlage gekommen sein, welche ebenfalls noch immer nicht zu Ende waren. Wobei dafür am Dach meterhohe Fangstangen aufgestellt wurden, welche dann auch noch mit Stahlseinen miteinander verbunden wurden. Was nun auch weithin sichtbar wäre, was sich, als wir das Hotel erreichten auch gleich zeigte, und das Architekturbüro darüber ganz und gar nicht glücklich sein. Nun kannte ich allerdings zu dieser Zeit viele Vorschriften in Deutschland noch nicht im Detail. Weshalb ich darüber nur stauen konnte. Denn, ich wusste zwar, dass es hier in den Vorschriften zu Änderungen in letzter Zeit gekommen war, diese Ausführung hielt auch ich allerdings für etwas übertrieben. Jedoch wollte mich Kurt M., als er mit seinem Firmenwagen auf das Parkdeck am Dach eines Gebäudeteils fuhr, von der Notwendigkeit von Maßnahmen gegen atmosphärische Entladungen überzeugen und er deshalb, bevor er sich eine Karte bei der Einfahrtsschranke des Parkplatzes drucken ließ, zuvor mehrmals auf den Kartenautomaten an der Zufahrtsschranke mit der Hand schlug, als wollte er davon ein Tier vertreiben. Er meinte, er hätte schon mehrmals einen elektrischen Schlag erlitten, als er sich hier eine Karte drucken ließ, weshalb er nun selbst noch zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hätte und eben erst einmal eine potenzielle Ladung am Automaten mit seinen Schlägen ableiten möchte und er deshalb auch sofort die vorgesehene Ausführung der Blitzschutzanlage am Dach befürwortet hätte. – Aber wie hatte einst ein Arbeitskollege jenes Ingenieurbüros in Salzburg, in welchem ich bis 2003 gearbeitet hatte, stets gesagt, der Laie staunt, der Fachmann wundert sich! Dementsprechend saß ich nun neben Kurt M. in dessen Firmenwagen, als er sein Auto auf dem Parkdeck des Hotels parken wollte.
Als ich danach, als wir im Hotel eincheckten, noch einmal kurz vor dem Haus stand, ging dort eine jüngere und eine ältere Frau an mir vorbei. Wobei die ältere meinte,
„gut, dass er jetzt auch hier ist!“
Worauf die jüngere der beiden meinte,
„aber wenn er auch bei denen wohnen muss, dann wird er hier nichts machen können!“
Was mich wiederum daran erinnerte, dass es nun offensichtlich zwei Welten gibt. Eine, in welche ich nun geraten bin, in welcher ich nichts machen könnte, auch nicht daraus entlassen werden würde, und eben eine andere…
(2021-09-10)