Krisensitzung wegen dem Projekt Nahverkehrsdrehscheibe NVD
Salzburg, Freitag, der 29. November 2002:
Schon am Vormittag war klar, nun wird es wohl bei dem Projekt „Nahverkehrsdrehscheibe“ in Linz ernst werden. Frau K., die Schwester des Chefs und zugleich Gattin des zweiten Chefs, kam am Vormittag zu H. und forderte ihn regelrecht auf, nun etwas zu unternehmen, denn das Leistungsverzeichnis für dieses Projekt hätte schon vor Monaten fertig sein müssen und zudem hätten die Leistungen auch laut Terminplan längst ausgeschrieben sein müssen. Tatsächlich war allerdings davon noch überhaupt nichts da. Mein Kollege Karl H. hatte zwar immer versichert, es würde bereits beinahe alles fertig sein, jedoch, ich hatte immer wieder mal zwischendurch in seinen Unterlagen, welche er am Server abgespeichert hatte, nachgesehen, er hatte zwar damit begonnen, jedoch war davon eigentlich nichts zu gebrauchen.
Im jenem Teil des Leistungsverzeichnisses, in welchem die Gesamtleistung in einzelne Positionen unterteilt war, der sogenannten „B4“, bestand seine bisherige Arbeit lediglich darin, das Standard-Leistungsbuch in das Projekt zu kopieren und jede Position mit der Menge „0“ zu versehen. Lediglich vereinzelte Positionen waren bereits mit Mengen versehen. Dies bedeutete allerdings, er hatte in diesem Projekt bereits über circa 40.000 Positionen angelegt, davon waren allerdings ungefähr 95% mit der Menge „0“ versehen. Und er behauptete immer, es wäre beinahe alles fertig, lediglich die Massen müssten noch vollständig ermittelt werden.
In der Leistungsbeschreibung selbst, der sogenannten „B2“ – es handelte sich dabei um eine funktionale Ausschreibung, wobei die Leistungen nicht als eine einzige Pauschale anzubieten waren, sondern eben die Leistungen in einzelne Positionen unterteilt anzubieten waren, bestand seine bisherige Arbeit darin, eine vergleichbare Beschreibung zu kopieren und diese, gelinde gesagt versuchsweise an das Projekt anzupassen. Also auch dieser Teil war so gut wie überhaupt nicht zu gebrauchen.
Nun sollte allerdings die gesamte Leistungsbeschreibung bereits seit Monaten, wie es da immer so schön heißt, auf dem Markt sein. Also die Angebotsphase hätte bereits längst begonnen, ja längst abgeschlossen sein sollen und somit längst ein potentieller Auftragnehmer feststehen sollen. Es war allerdings noch nicht einmal ansatzweise so weit.
Dies bedeutete natürlich, sowohl der Auftraggeber innerhalb der Generalplanungs-ARGE, als auch der Auftraggeber des gesamten Projektes waren bereits in größter Aufregung, da unsererseits die zu erbringenden Leistungen dafür einfach noch nicht erledigt waren. Zudem wurde, und dies hatte ich auch die vorangegangenen Wochen und Monate immer wieder mitbekommen, dazu zwar immer wieder Termine für die Fertigstellung zugesagt, ja sogar selbst genannt, welche dann allerdings wieder ohne die Arbeiten dafür zu erbringen verstrichen waren. Die Aufregung auf Seiten des Auftraggebers war also eigentlich auch völlig verständlich.
Nun war Karl H. allerdings auch noch krank geworden. Seit Wochen fiel er immer wieder tagelang aus und auch diesmal war er bereits die ganze Woche krankgeschrieben. Was eigentlich auch verständlich ist, denn er litt an einer Herzerkrankung und hatte deshalb auch im vergangenen Sommer eine Bypass Operation hinter sich bringen müssen.
Das Projekt musste allerdings weiter gehen und die Auftraggeber erwarteten sich eben auch, verständlicher Weise, von einem derartigen Ingenieurbüro entsprechende Personalkapazitäten, um auch solche Situationen zu meistern. Andernfalls hätte das Büro auch diesen Auftrag niemals erhalten. So kam plötzlich mein Kollege, Norbert K., gegen Mittag aus dem Büro des zweiten Chefs, er war wohl eher zufällig gerade dort und hatte etwas zu erledigen, und lief durch die Reihen und verkündete, nach Mittag um 13:30 Uhr sollten sich alle Mitarbeiter des Büros im Besprechungsraum im 1. Obergeschoß einfinden. Alle Mitarbeiter? Das waren allerdings an diesem Freitag nicht besonders viele. Denn dies waren nur ich, mein Kollege Norbert K., der Zeichner Alfred J. und ein weiterer Kollege. Anfangs rätselten wir noch etwas, worum es nun wohl gehen möge. Doch eigentlich war es allen klar. Es kann sich lediglich um das Projekt „Nachverkehrsdrehscheibe“, „NVD“ handeln und nun würden uns wohl Sonderschichten erwarten, um die Ausschreibung dafür fertig zu stellen. Dabei war uns allen auch klar, es würde uns eine Wochenendschicht erwarten, denn bereits am folgenden Montag sollte zumindest ein kleiner Teil der Ausschreibung fertig gestellt sein, die Brandmeldeanlage, da hier der Auftraggeber und seine Abteilung für Sicherheitstechnik, zu welcher eben auch die Brandmeldeanlage gehört, besonders viel Druck entwickeln. Aber auch der Gesamtfertigstellungstermin für die Ausschreibung mit 18. Dezember war uns allen bereits klar, denn dies schien nun der allerletzte Termin zu sein, welchen der Auftraggeber noch akzeptieren würde, ohne seine Drohung, die Vertragsstrafe geltend zu machen. Alle zusammen hatten wir ja das drohende Debakel bei diesem Projekt stets mit verfolgt, saßen wir doch, alle Mitarbeiter zusammen, in zwei Großraumbüros, welche lediglich durch eine Glaswand, durch die allerdings beinahe jedes Geräusch aus dem anderen Raum durchdrang, getrennt. Dann gab es eben nur noch das Sekretariat und gleich das Büros der Chefs, in welchem allerdings nur Rudi K. mit seiner Frau saß. Walter H., der eigentliche Chef, saß bei uns im ersten Großraumbüro am ersten Tisch. Somit konnten eigentlich immer alle Mitarbeiter mit verfolgen, was sich in Unternehmen abspielte. War die Tür zum Chefbüro noch dazu erst einmal geschlossen, dann war jedem klar, dabei kann es nur um äußerst ernste Angelegenheiten gehen, welche allerdings meist wenige Stunden später durch die Sekretärin auch unter den Mitarbeitern verbreitet wurden. Also, uns war allen klar, was uns nun erwarten würde.
Kurz nach Mittag schlichen wird dann auch in das Besprechungszimmer im ersten Obergeschoß, gleich neben der Wohnung der Familie K. Wenige Minuten später erschien dann auch Walter H. und begann uns die Angelegenheit zu schildern. Er meinte noch, uns die Situation schonend beibringen zu müssen, aber, wie es eben so seine Art war, vergriff er sich dabei ordentlich im Versuch, uns dies darbringen zu wollen. Ehrlich gesagt, ich hatte den Eindruck, er war sich dessen überhaupt nicht bewusst, oder er konnte es einfach nicht verstehen, in welcher Lage er sich nun befand. Denn der Auftraggeber drohte damit, die Vertragsstrafe geltend zu machen, welche allerdings in Vertrag mit unbegrenzter Höhe vereinbart wurde. Und dies muss man sich erst einmal vorstellen. Dies hätte bedeuten können, der Auftraggeber, die ARGE für die Generalplanung könnte die gesamte Auftragssumme als Vertragsstrafe geltend machen und dabei stand immer eine Summe von 5 Millionen Euro im Raum! In Österreich sind Vertragsstrafen meist mit einer Höhe von maximal 10% des Auftragswertes begrenzt, welches sich aus der Regelung dafür in der Werkvertragsnorm ÖNORM B2110 ergibt. In Deutschland gilt Ähnliches, allerdings sind es hier gar nur 5%. Daher ist sicher fraglich, ob diese Klausel im Vertrag mit der unbegrenzten Vertragsstrafe vor Gericht auch tatsächlich Stand gehalten hätte und nicht wegen Verstoßes gegen die guten Sitten als Nichtig erklärt worden wäre. Allerdings wäre es erst einmal soweit gekommen, wäre der Auftrag längst weg gewesen – mit all den dadurch zu erwartenden Folgen. Daher, die Situation war mehr als ernst, denn dies hätte auch den Ruin des Unternehmens bedeuten können, beziehungsweise bei Fällig werden der gesamten Auftragssumme als Vertragsstrafe hätte dies mit Sicherheit den Ruin des Unternehmens bedeutet!
Wie es nun mal die Art von Walter H. war, meinte er uns mit seiner unbedarften Art auf die Abgabe jenes Teils der Ausschreibung, welche die gesamte Brandmeldetechnik betraf, auf den folgenden Montag vorzubereiten. Wobei man dabei nicht vergessen darf, es handelte sich dabei nicht einfach um eine Brandmeldeanlage, so wie sie sonst üblich zum Beispiel in einem Bürogebäude installiert ist, sondern es handelte sich dabei gleich um drei Brandmeldeanlagen, für jede der drei unterirdischen Straßenbahnstationen eine, sowie für drei sogenannte Linien-Brandmeldeanlagen, welche in den drei Abschnitten des Straßenbahntunnels installiert werden sollten. Wobei nun alle 6 einzelnen Brandmeldeanlagen untereinander vernetzt werden mussten und diese Gesamtanlage an das Zentralgebäude des Auftraggebers, der Linz AG, welches sich in einigen Kilometern Entfernung befindet, anzuschließen. Also, es handelte sich nicht gerade um eine übliche Brandmeldeanlage. Nun begann allerdings Walter H., als er uns für den Abgabetermin hierfür für den darauf folgenden Montag vorbereiten wollte, mit den Lippen zu lispeln, nahm dabei tief Luft und meinte,
„… die Brandmeldeanlage, die müssen wir am Montag fertig haben!“
Dabei darf man nicht vergessen, mittlerweile war es Freitag Nachmittag gegen 14:00 Uhr. Also blieben nur mehr der verbleibende Nachmittag, der Samstag und der Sonntag. Und da am Montag bereits die nächste Besprechung des Auftraggebers anberaumt war, bedeutete dies, die Abgabe müsste bereits am Montag im Laufe des Vormittags erfolgen und nicht erst am späten Abend. Also, dieser Tag wäre nicht mehr zur Verfügung gestanden – und dies für „… die Brandmeldeanlage“.
Nun hatte ich mich schon die vergangenen Wochen und Montage gedanklich auf diesen Tag “X”, an welchem dieses Projekt bei mir landen würde, vorbereitet. Denn eines war seit dem Weggang von Hermann St. In Frühling dieses Jahres, welcher dieses Projekt auch bereits als dritter Projektleiter bearbeitete, klar, dieses Projekt würde beinahe zwangsläufig eines Tages auf meinem Tisch landen. Dass Karl H., anfangs noch mit dem Kollegen Christoph G., welcher allerdings das Unternehmen auch Anfang Sommer verlassen hatte, dieses Projekt, alleine schon wegen seiner Krankheit, nicht bewältigen würde können. Dies hatte sich schon bei jenem Projekt, welches er zuvor bearbeitet hatte, einem größeren Kongressgebäude in Salzburg, gezeigt. Zudem hatte mich Walter H. bereits schon im September einmal darauf angesprochen, ich sollte dieses Projekt übernehmen, er kam allerdings seither nicht mehr auf mich zurück. Ich hatte zwar gehofft, dieser Kelch würde irgendwie doch noch an mir vorbei gehen, allerdings war mir seit Sommer klar, eines Tages würde mir nichts anderes übrig bleiben, als dieses Projekt zu übernehmen, oder das Unternehmen zu verlassen. Warum Walter H. nicht schon Monate vorher reagiert hatte, konnte ich nicht verstehen, denn es war einfach klar, mit Karl H. würde dies niemals gut gehen. Daher war ich nun regelrecht sauer und auch dementsprechend angespannt. Er hatte Karl H. damit auch sicherlich nichts Gutes getan, denn dies war seinem Gesundheitszustand keinesfalls hilfreich. Aber die Personalführung war eben nicht gerade die Stärke von ihm.
Daher viel ich, nach einigen Worten von Walter H., ihm beinahe ins Wort und meinte zu ihm, ob es nicht viel besser wäre, dem Auftraggeber die Situation einmal offen zu erklären, ihm zudem zu erklären, nun würde ein neues Projektteam aufgestellt werden um diese Ausschreibung fertig zu stellen, ihm einen neuen Terminplan für die Fertigstellung von Teilanlagen, eben wie der Brandmeldeanlage aufzustellen und somit einen Fahrplan für die Einhaltung des nun als allerletzten Termins für die Abgabe des Leistungsverzeichnisses mit 18. Dezember aufzuzeigen. Denn anderenfalls wären wir nun das gesamte Wochenende an der Arbeit gewesen, die Brandmeldeanlage fertig zu stellen, jedoch am Montag wäre bei der Projektsitzung des Auftraggebers ein neuer Termin für die nächste Teilanlage vorgegeben worden, was bedeutet hätte, es wäre im Anschluss an die Brandmeldeanlage in gleicher Weise weiter gegangen. Danach wäre der nächste Termin vorgegeben worden und dies hätte sich bis 18. Dezember in dieser Weise fortgesetzt. Und am 18. Dezember wären wir, hätten wir alle vorgegebenen Termine einhalten können, alle zusammen physisch und psychisch kaputt unter den Arbeitstischen gelegen.
Anfangs zögerte der Chef noch, denn er wendete immer wieder ein, Karl H. würde, trotz allem zu Hause an dem Projekt weiter arbeiten und Karl H. hätte ihm immer wieder versprochen, die gesamte Ausschreibung wäre ja beinahe schon fertig, es würden lediglich noch einige Anpassungen erforderlich sein und es müsste noch die Massenermittlung fertig gestellt werden. Allerdings hatte ich schon in den Tagen und Wochen zuvor immer wieder einmal in die Projektordner von Karl H., welche am Server abgelegt waren, einen Blick darauf geworfen und dabei festgestellt, von all den Angaben und Zusagen, welche von Karl H. kamen, konnte einfach nichts stimmen. Zudem hatte er schon äußerst oft Zusagen getroffen, welche er dann überhaupt nicht einhalten konnte. Auch dies wurde vom Auftraggeber bereits mehrfach bemängelt und an die Einhaltung von, meist sogar selbst genannten Terminen, erinnert. Nachdem allerdings auch mein Kollege Norbert K. meine Zweifel über das Vorhandensein von beinahe fertigen Ausschreibungsunterlagen bestätigte, denn auch er hatte immer wieder gelegentlich darauf einen Blick am Server geworfen, ging Walter H. auf meinen Vorschlag ein. Zudem schlug ich ihm auch noch vor, ich würde nun mit der Projektsteuerung sprechen und ihnen den nun von uns vorgesehenen Weg für die Fertigstellung der Ausschreibung darbringen. Weiters schlug ich ihm vor, sich nun einmal nur auf die Fertigstellung des funktionalen Ausschreibung, also der Baubeschreibung „B2“ zu konzentrieren und in jenem Teil, in welchem die Massen für die einzelnen Leistungen angeführt sind, der „B4“ und „B5“, sich lediglich auf Schätzungen zu beschränken, denn exakte Massen wären für die Erstellung eines sogenannten „Leseexemplares“ einer Leistungsbeschreibung auch nicht unbedingt erforderlich. Erst nachdem dieses Leseexemplar am 18. Dezember fertig gestellt ist, sollten wir uns auf die Ermittlung der exakten Massen konzentrieren. Nun wurden die Augen von Walter H. immer größer und sein anfänglich doch etwas ernster Blick begann zu verfliegen und er setzte beinahe schon ein Lächeln auf. Er hatte wohl nun auch erkannt, dass ich mich bereits auf diesen Tag „X“ vorbereitet hatte und meinte nun, ich sollte doch gleich auf meinen Arbeitsplatz gehen und mit Sepp M. (Dipl. Ing.) telefonieren und der Projektsteuerung meinen Weg für die doch noch rechtzeitige Erstellung der Ausschreibung darstellen. Was ich dann auch gleich tat. In der Zwischenzeit würden die Kollegen und er im Besprechungszimmer warten und auf meine Nachricht warten.
Nun ging ich also an meinen Arbeitsplatz und telefonierte mit unserem Auftraggeber für die Planungsleistungen, der Arbeitsgemeinschaft für die Generalplanung. Dafür war D. I. Sepp M zuständig. Allerdings wurde ich gleich mit dem zuständigen der Projektsteuerung beim Generalplaner Erwin A. (Dipl. Ing.) verbunden, welchem ich nun meinen Fahrplan für die Realisierung der Ausschreibungsunterlagen darbrachte. Dieser nahm dies relativ gelassen zur Kenntnis und notierte sich offensichtlich meine Vorschläge. Ich schlug ihm zudem noch vor, bis Montag einzelne Zwischentermine für Abgabe von Teilanlagen auszuarbeiten. Mittlerweile schien er sogar von meinen Vorschlägen ziemlich angetan zu sein und er meinte, dann müsste ich auch an den Besprechungen am Montag und an den folgenden Terminen in der nächsten Woche nicht Teil nehmen, denn es wäre dann wohl besser, ich würde an der Ausschreibung arbeiten und nicht an diesen Besprechungen Teil nehmen. Offensichtlich ging er schon davon aus, ich würde nun dieses Projekt übernehmen, worüber er sich keinesfalls negativ äußerte. Das gesamte Telefonat hatte gerade Mal einige Minuten gedauert. Danach ging ich wieder hoch in das erste Obergeschoß in den Besprechungsraum, wo der Chef und die Kollegen noch auf mich warteten und überbrachte ihnen die vorerst „frohe Botschaft“. Danach löste sich die Besprechung auf und die Kollegen gingen nach Hause, denn der Wochenendeinsatz war nun vom Tisch. Auch ich ging danach nach Hause, denn es war mittlerweile nach 16:00 Uhr geworden, wohl wissend, was in den nächsten Wochen auf mich zukommen würde. Dafür wollte ich mich auch an diesem Wochenende vorbereiten, denn nach dem 18. Dezember würde keinesfalls Ruhe einkehren, es käme zwar erst einmal der Weihnachtsurlaub, aber nach den Weihnachtsfeiertagen würde es Schlag auf Schlag weiter gehen, bis zur geplanten Fertigstellung dieses Projektes im Dezember 2014.