Unterach, Mittwoch, der 9. Juli 1998:
An diesem Abend stand ich an der Bar in dieser Allerweltskneipe „Sigi’s Pub“. Das Wetter war mittlerweile schlecht geworden. Auch kalt wurde es. Sodass auch ein Baden im See nicht möglich war. Vielleicht war deshalb auch an diesem Abend überraschend wenig los. Im Fernsehen, im hinteren Bereich des Lokals, im Bereich der Spielautomaten, lief eine Übertragung des Fußballspiels Frankreich gegen Kroatien der Fußball Weltmeisterschaft. Aber auch dies schien kaum Interesse zu finden.
Lediglich im unteren Bereich schienen ein paar Tische belegt zu sein, die aber von der Bar aus nicht einsehbar waren. Doch als ich da beinahe alleine an der Bar stand, kam plötzlich eine junge Frau von eben diesen unteren Tischen zur Bar vor und ging danach zu den Spieltischen. Und kaum dachte ich mir, das ist aber eine hübsche junge Frau, ganz ungewöhnlich in diesem Lokal, da erkennte ich sie erst. Es war jene junge Frau, „Michi“, welche ich am Sonntagabend unbedingt nach Hause bringen sollte. Was ich allerdings nicht tun konnte, da ich ja zuvor schon den ganzen Tag auf diesem Kunsthandwerker Markt im Dorf unterwegs war.
Selbst Peter W., der nur wenige Meter neben mir an der Bar stand, meinte,
„die gibt aber echt was her, die Kleine!“
Wobei ich dem gedanklich nur zustimmen konnte.
Da sah ich mir diese junge Frau, als sie wenig später wieder an mir vorbei, zurück an den Tisch gegangen war, noch etwas genauer an und dachte mir, sie scheint wirklich keine Praktikantin, keine Schülerin zu sein, welche in einer ihrer letzten Ferien ein klassisches Praktikum absolviert, sondern schien tatsächlich etwas älter zu sein. Die von ihr angegebenen einundzwanzig Jahre vielleicht doch war zu sein. Zudem stellte ich dabei auch fest, dass es sich dabei um eine äußerst hübsche, junge Frau handelte. Weshalb ich mir dachte, da war wohl der Ausgang des Abends vergangenen Sonntag nicht gerade günstig.
Aber was hätte ich tun sollen, damit dies nicht geschieht? Denn mein allererster Eindruck war tatsächlich, hier würde es sich für mich um eine Falle handeln, sollte ich sie doch nach Hause bringen und die Polizei, damals noch die Gendarmerie, würde schon auf mich warten. Zudem hätte ich ja nicht einmal ein Auto dabeigehabt. Auch sonst hätte ich keine Möglichkeit gesehen, sie nach Hause zu bringen. Denn mal schnell ein Taxi rufen, wenn man selbst nicht mehr Autofahren kann, das geht in diesem Dorf nicht. Und zu Fuß nach Hause bringen? Nun, dieser „Jägerwirt“, am Begin der Burggrabenklamm in Unterburgau liegt am anderen Seeufer. Da geht man ein ganzes Stück. Zudem auf einer Bundesstraße, ohne Gehweg, Randstreifen oder sonstiges. Also das schied auch aus.
Nun könnte man vielleicht noch meinen, was erzähle ich da für einen Blödsinn, ich hätte sie ja auch mir zu mir nach Hause nehmen können. Aber so etwas schied für mich in diesem Dorf im Vorhinein durch den Zustand meiner Mutter sowieso aus. Das ging eben einfach nicht. Dazu habe ich, wenn ich in mein Elternhaus heimgekommen bin, schon zu viel erlebt und das konnte ich schon oft kaum ertragen, daher wollte ich dies auch niemand anderem zumuten. Zu oft hatte ich sie, als ich nach Hause gekommen bin, regelrecht aufklauben und in ihr Bett bringen müssen. Es ist auch kein angenehmer Anblick, wenn man seine Mutter, betritt man das Haus, am Treppenansatz am Boden liegen sieht. Daneben vielleicht auch noch eine kleine Blutlache. Das ist kein Anblick, den man selbst sehen will, und schon gar nicht jemand anderen zumuten will. Schon gar nicht, wenn man gerade mit einer hübschen, jungen Frau nach Hause kommt.
Das war eben immer mein großes Handikap in meinem alten Heimatdorf. Eigentlich schon seit meinen Jugendjahren. Aber ganz besonders seit dem Tod meines Vater 1989, als es so aussah, als würde sich meine Mutter davon nie mehr erfangen. Wie sehr hatte ich da immer meinen Bruder beneidet, der bereits erwachsen war, als dies begonnen hatte.
Nicht zuletzt deshalb hatte ich nun mein Appartement in Salzburg. Weshalb es mir auch nicht gerade gut ging, wenn nun meine Tätigkeit in diesem Ingenieurbüro in Salzburg zu Ende gehen würde, ich nicht bald eine neue Beschäftigung finden würde und ich mir dieses nicht mehr lange leisten werden können.
Worin mein Problem in diesem Dorf lag, das war auch im Dorf bekannt, Und zwar schon sehr lange. Zudem wusste ich auch, woher die gekommen war. Denn Peter St., der Vater meines Schulkollegen Richard St., neben dem ich in der Grundschule sechs von acht Jahren in der gleichen Bank saß, hatte dies, nachdem er beim Rettungseinsatz, als sich meine Mutter den Fuß gebrochen hatte, dabei war, unter die Leute gebracht. Daher war ich auch seit vielen Jahren der Meinung, dass es gerade dies wäre, weshalb ich im Dorf in manchen Kreisen einfach keinen Zugang fand. Ich dachte mir, wer will schon mit jemanden, der solche Probleme hat, etwas zu tun haben.
Ganz ehrlich gesagt, ich wollte es mir einfach ersparen, mit jemandem dies miterleben zu müssen. Nicht nur in diesem Fall. Oft habe ich mir gedacht, ich wäre die Ausnahme, der in solch einem Fall so reagiert. Doch als ich 2010 in die Gegend um Stuttgart gekommen bin, stellte ich fest, nicht nur ich hatte damit in meinem Leben zu kämpfen. Dies geht auch vielen anderen auch so. Beinahe alle reagierten dabei ähnlich, wie ich dies auch stets tat. Es ist einfach ein Problem, wenn man einen kranken Menschen mit im Haushalt hat. Dies schien also im Vorhinein schon aus.
Aber was hätte ich tatsächlich tun sollen, um dieses Ende des Abends am Sonntag zu vermeiden? Ich hätte einfach nicht mehr in diese Kneipe gehen sollen. Etwas anderes fiel mir nicht mehr ein. Aber dann hätte ich sie eben auch nicht getroffen.
Daher habe ich mich nun richtig über diesen Sonntagabend zu ärgern begonnen. Aber nicht nur darüber, sondern auch darüber, wie es überhaupt zu diesem Sonntag, den ich den ganzen Nachmittag bis spät am Abend auf diesem Kunsthandwerker Markt verbracht hatte, gekommen war. Eigentlich nur wegen diesem dummen Gerede, welches ich ab Freitag feststellen musste, über meine Absage für meine Bewerbung im Landeskrankenhaus in Salzburg.
Aber was wäre gewesen, hätte ich dies einfach nicht gehört? Oder ich hätte darauf einfach nicht reagiert? – Wahrscheinlich wäre ich an diesem Tag gar nicht in Unterach gewesen. Denn dieser Kunsthandwerker Markt hatte mich ohnedies nie interessiert. Oder ich wäre vielleicht einmal kurz im Dorf gewesen und hätte danach etwas ganz anderes unternommen. Jedoch wäre ich kaum an diesem Abend in dieser Kneipe gewesen. Denn diese Kneipe war eigentlich bekannt dafür, dass dort, wenn eine Veranstaltung im Dorf zu Ende geht, zuletzt noch eingekehrt wird. Und an so einem Tag treffen sich dann dort eben all jene, welche nach Ende des Kunsthandwerker Marktes noch nicht nach Hause gehen wollen.
Ich hatte mir am Sonntagabend, als ich nach Hause gegangen bin, schon gedacht, in diesem Dorf müsste man wie eine Maschine funktionieren. Keinerlei Emotionen, auf nichts reagieren und jederzeit voll „betriebsfähig“. Nun dachte ich mir dies noch viel mehr. Aber das geht eben einfach nicht. Zudem hatte mich das am Wochenende begonnene Gerede, wegen meiner Absage, doch sehr heftig getroffen. Es war ja nicht gerade das einzige Problem, welches ich nun hatte. Und kaum versucht man ein Problem zu lösen, schon hat man das nächste Problem am Hals.
Aber gut, das muss ich ihr eben einmal erklären, wenn ich sie das nächste Mal treffe, dachte ich mir. An diesem Abend schien sie allerdings anderen Leuten in diesem Lokal zu sein, daher würde dies wohl heute nichts werden. Jedoch, da ich sie heute, gerade Mal drei Tage danach, schon wieder in dieser Kneipe sehe, werde ich sie wohl auch bald wieder sehen. – Dachte ich mir.
Zumindest hatte ich die Hoffnung darauf. Auch wenn ich wusste, es gäbe in diesem Dorf einige sehr interessante Leute, welche ich, wenn überhaupt, nur ganz, ganz selten irgendwo zu sehen bekomme. Aber kaum in irgendeinem Lokal im Dorf. Denn nach meiner Einschätzung damals, war dieses Dorf keinesfalls ein, wie man es umgangssprachlich bezeichnen würde, Bauernkaff. Zwar ein Kaff am Ende des Attersees. Aber durchaus ein Dorf, in welche einige interessante Leute leben würden. – Wenn man sie doch nur wenigstens öfters zu Gesicht bekommen würde.
Auch zuvor ging es mir schon oft so, dass ich jemandem aus dem Dorf getroffen hatte, danach allerdings so gut wie nie mehr zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl ich wusste, dass sie im Dorf waren. Auch junge, hübsche Frauen und auch in meinem alter. Meist handelte es sich dabei um Zweitwohnungsbesitzer, aber auch um andere Leute, welche nur für einige Zeit hier waren. Das Dorf fand ich also eigentlich gar nicht so uninteressant. Woran dies lag, dafür hatte ich bisher keine Erklärung. Allerdings fand ich dies stets schade. Denn so wäre das Dorf richtig lebenswert. Wenn auch nur für einige Wochen im Jahr.
In diesem Fall hatte ich nun allerdings doch die Hoffnung, „Michi“ bei nächster Gelegenheit wieder einmal im Dorf anzutreffen. Zudem da sie ja am Sonntagabend mit genau jener Truppe in diesem Lokal erschienen war, welche sonst auch stets in diesem Lokal anzutreffen ist. Allerdings werde ich gerade in dieser Kneipe sehr darauf achten müssen, dass hier nicht ebenfalls etwas eskaliert. Denn auch hier war das Verhältnis, gerade zu den Wirtsleuten, schon einmal viel besser. Manchmal dachte ich mir schon, gerade der Wirt würde mich am liebsten aus seinem Lokal hinaus haben. Daher war gerade hier nun Vorsicht geboten. Ich habe zwar nie wirklich verstanden, worin plötzlich das Problem lag. Aber ich dachte mir, der Wirt scheint wohl der Ansicht zu sein, dass ich gerade zu seinen Stammgästen nicht wirklich passen würde. Da könnten sie eben nicht so tun, wie sie das gerne täten.
Naja, der Sonntagabend war eben nun einmal dumm gelaufen. Aber dann, beim nächsten Treffen, würde ich ihr das wohl einfach erklären müssen.
(2022-08-10)